Seit Jahren höre ich jetzt schon ich könne ja mal über den „Kolbenfresser“ schreiben und ich könne das ja dann ganz lustig aufziehen. Ist es ein Vogel? Was frisst er? Wo ist er zu beobachten? Da ich aber der Ansicht bin, dass ich hier für ein seriöses Anzeigenblatt schreibe, wehre ich mich auch schon genauso lange erfolgreich gegen eine solche Albernheit. Wenn schon ein Artikel, dann mit dem nötigen Ernst.
Ein für alle Mal: Der Kolbenfresser ist kein putziges Tierchen und er frisst auch keine Hirse-Kolben. Im Grunde ist das alles sogar ein furchtbar trauriges Thema. Der Kolbenfresser ist ein Moment des Leidens. Ein fataler, finaler, autolebensverändernder Augenblick, dem zahlreiche triste Tage folgen. So kann man es sagen. Der Kolbenfresser ist also nicht nur kein Tier, er ist auch kein Gegenstand oder kein Bauteil, er ist ein deprimierendes Ereignis.
Dieses Ereignis findet im Inneren des Motors statt, meistens dann, wenn man nichts Böses ahnt und recht schnell unterwegs ist. Was passiert? Bei normaler, schneller Fahrt flattern bekanntermaßen die Kolben fröhlich in ihren Zylindern. Ein reges Treiben, es knallt und pufft, es explodiert und stampft. Die Ein- und Auslassventile schnattern. Sie öffnen und schließen im jeweils exakt richtigen Augenblick. Sie lassen das Kraftstoff-Luft-Gemisch in den Zylinder strömen, lassen die Abgase heraus. Das ist alles sehr eingespielt und läuft – wenn genügend Öl im Motor ist – auch bei flotter Fahrt wie geschmiert. Wenn man sich die Geschwindigkeiten einmal vor Augen führt, mit denen dort im Inneren des Motors Metall auf Metall gleitet, ist es eigentlich erstaunlich, dass sich die beteiligten Einzelteile nicht andauernd verknoten.
Zum Glück. Wobei man das Glück auch überstrapazieren kann. Fährt man nämlich mit zu wenig Öl oder mit einem Defekt im Motorkühlkreislauf, kommt es zu einem eigentlich recht interessanten Phänomen. Der Motor ist für den Normalbetrieb so konstruiert, dass die Kolben haargenau in die Zylinder passen. Die Kolben bewegen sich – unabhängig von der momentanen Motortemperatur – „saugend/schmatzend“ innerhalb der Zylinder auf und ab. Das passt einfach. Hässlich wird es erst, wenn sich die Bauteile unterschiedlich ausdehnen. Da können schon wenige Millimeterbruchteile über Leben und Tod des Motors entscheiden.
Und unterschiedlich ausdehnen können sie sich eigentlich nur, wenn kühlendes Motoröl an den Zylinderlaufflächen oder Kühlerwasser in den Kanälen entlang der Zylinder fehlt. Dann wird’s eng. Das Gleiten wird zum Reiben, die Temperatur steigt. Im Extremfall steigt sie so weit an, dass der Werkstoff der Bauteile für einen kurzen Moment zu schmelzen beginnt. Was dann folgt, kann man sich denken. Als Fügeverfahren zum dauerhaften Verbinden zweier metallischer Teile eignet sich das Reibschweißen wunderbar, hier in unserer Beispielsituation hingegen, führt es zum Unglück. Zylinder und Kolben werden miteinander verschweißt. Das ist der entsetzliche Moment. Das ist der „Kolbenfresser“.
Ganz sicher nicht lustig. Und, als wenn das nicht schon reichen würde, hiermit nun noch die Darstellung wie es weitergeht: Der Motor wird schlagartig am Weiterdrehen gehindert. Die Bewegungsenergie des Autos ist jedoch leider grade noch sehr hoch, mit dem Ergebnis, dass die Kräfte riesig sind, mit denen versucht wird den Motor weiter zu drehen. Dieser ist aber wie eben beschrieben stellenweise festgeschweißt, womit die Physik nur noch einen brutalen Ausweg kennt: es knallt, reißt, bricht und verbiegt, wo es nur geht. Das Resultat ist ein komplett zerstörter Motor und jetzt ist garantiert niemandem mehr zum Lachen zumute. Geschafft.
Von STEPHAN SCHROEDEL